Bekannt aus:
Für immer oder für den Moment?

Sind Sie immer schlecht gelaunt? Oder nur Weihnachten?

Estar oder Ser

“Bist du immer krank oder nur für den Moment?” Das fragten mich meine spanischen Verwandten, wenn ich mal wieder die Verben “estar” und “ser” verwechselte. Beides bedeutet “sein”. Doch “estar” wird verwendet, wenn es sich um eine kurze Zeitspanne handelt. Ich bin krank, ich bin faul, ich bin schlecht gelaunt, ich bin im Schwimmbad. “Ser” wird verwandt, wenn ich sage, dass ich Deutsch-Spanierin bin, dass ich Autorin bin, dass ich Isabel bin und die Rothaarige bin.

Es wird also beim Sein stark zwischen kurz- und langfristig unterschieden. Wenn ich sage, dass ich faul bin und “estar” verwende, dann fühle ich mich nur in dem Moment faul oder für ein paar Tage. Wenn ich es mit “ser” sage, dann bin ich generell ein fauler Mensch.

Immer oder nur für den Moment?

Im Deutschen unterscheiden wir da leider viel zu selten. Denn das Verb sein gilt für die kurz- und langfristigen Eigenschaften. Das ist schade, denn diese Unterscheidung findet unser Gehirn sehr wichtig. Wenn ein depressiver Mensch zum Therapeuten geht und sagt: “Ich bin depressiv”, dann korrigiert der Therapeut gerne, indem er sagt: “Sie fühlen sich gerade depressiv.” 

Wortklauberei? Mitnichten. Denn wenn jemand denkt, dass er depressiv IST, dann gibt es kein Entkommen. Zumindest nicht für das Gehirn. Das speichert dies als dauerhaften Zustand ab und gedenkt dann auch nichts an dieser Tatsache zu ändern. Daher werden auch leichte Verbesserungen kaum wahrgenommen. Wenn ich mich stattdessen depressiv FÜHLE, dann weiß unser Gehirn, dass dies ein vorübergehender Zustand ist. Und er stellt sich innerlich schon auf die Veränderung ein.

Fühlen Sie es auch in diesem Moment?

Gerade bei depressiven Patienten fragt der Therapeut dann auch mal, ob sie sich auch in diesem Moment depressiv fühlen. Häufig kommt ein klares Ja. Und manchmal aber auch ein Nein. Denn in diesem Moment genießen sie vielleicht gerade die Sonne oder sie genießen das Essen oder das Gespräch. Somit SIND sie nicht depressiv, sondern sie fühlen sich im Moment die meiste Zeit depressiv.

Warum schreibe ich dies am zehnten Tag in den ICH REDE Adventskalender? Weil wir auch zu Weihnachten dazu neigen, IST und FÜHLEN zu verwechseln. Und dadurch schaffen wir neurowissenschaftliche Tatsachen, die wir so gar nicht haben wollen.

Ich bin sauer!

Sind Sie sicher? Immer? Nur weil Sie ein Geschenk bekommen haben, von dem Sie wenig begeistert sind? Nur weil Ihr Sohn mal wieder zu spät gekommen oder wieder zu früh gegangen ist? Sind Sie nun wirklich auf immer und ewig – langfristig – sauer?

Ich hoffe nicht. Ich denke, dass Sie sich angesäuert fühlen. Mir ist bewusst, dass die Sprache dadurch schwammig wird und ein “Ich bin wütend” knackiger klingt, als ein “Ich fühle mich gerade wütend”. Doch es spielt für unser Gehirn eine große Rolle, ob wir etwas sind oder uns nur so fühlen.

Ausweg in Sicht

Sobald wir sagen, dass wir uns enttäuscht fühlen, schwingt immer noch eine gewisse Leichtigkeit mit. Wir wissen genau, dass dies nur ein vorübergehender Zustand ist und schon wartet unser Kopf gespannt darauf, was wohl als nächstes Gefühl kommt. Wenn wir enttäuscht sind, dann folgt automatisch die Schwere und Endgültigkeit. Was soll sich da auch ändern? Wir sind es ja.

Und selbst wenn Sie lieber “sein” sagen möchten, dann fügen Sie zumindest ein “im Moment” oder “noch” oder “derzeit” mit ein. Denn Sie sind in diesem Moment darüber enttäuscht, dass Ihr Bruder Ihnen nichts geschenkt hat. Sie sind derzeit wütend darüber, dass die Füllung vom Gänsebraten nicht so gut geworden ist. Sie sind noch verzweifelt, weil Sie sich fragen, ob Sie die Dekoration rechtzeitig fertig bekommen.

Nehmen Sie sich an den Spaniern ein Beispiel

Unterscheiden Sie bitte von der Sprache her, ob es sich um ein kurz- oder langfristiges Gefühl handelt. Sie SIND nämlich nicht krank, sondern Sie FÜHLEN sich krank. Zumindest möchte ich dies stark hoffen. Oder sind Sie es für immer und ewig? Sind Sie generell vom Weihnachtsfest enttäuscht oder nur in dem Moment?

Für Ihr Gehirn macht die Wortwahl einen großen Unterschied. Und somit steigen oder sinken die Chancen eines Stimmungswechsels. Ich fühle mich übrigens gerade glücklich, weil ich wieder einen Tipp für meinen Adventskalender fertig habe. Ich wünsche Ihnen ein wunderschönes drittes Adventswochenende.

 

 

 

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